KRITIK DER ERINNERUNGSKULTUR

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Artikel veröffentlicht: 31.01.2013, 11:58 Uhr

Wider die Macht der Gewohnheit
Kritik der "Erinnerungskulturen" aus aktuellem Anlass
Karl H. Klein-Rusteberg

"Nie wieder wegschauen..." Israel und einige Weltanschauungen der Gegenwart – das war der Titel meines Vortrages im Rahmen der Donnerstagsgespräche in der ´ALTE SYNAGOGE – Haus jüdischer Kultur´ in Essen am 6. September 2012.

In der Einleitung formulierte ich – sehr grob - einige Fragen an das, was "Erinnerungskultur" genannt wird. Dabei war es mein Bestreben, der Moralität dessen keine "alternative Ethik" entgegenzusetzen, sondern in einer Art von Selbstbefragung, Voraussetzungen dieser Erinnerungskultur kritisch (in des Wortes Bedeutung!) in den Blick zu nehmen. Von diesen unseren Voraussetzungen allerdings nehme ich an, dass sie uns zur Gewohnheit geworden sind. Meist werden Fragen des "wie machen wir Erinnerung heute weiter?" umgewandelt und dieses gewohnte "wie" treibt dann unzählige Blüten volkspädagogischen Wohlmeinens in methodischer, wie didaktischer Hinsicht.

Aber was, wenn es "Erinnerung" als Rohstoff der Belehrung so nicht gibt? Oder: wenn es diesen Rohstoff in einer Weise gibt, die uns – ob der Gewohnheit – nicht in den Blick, nicht in den Sinn, kommt?

Hier ein Auszug aus der erwähnten Einleitung – ohne den geringsten Anspruch auf Vollständigkeit oder umfassend theoretische Weihen. Was hier über den iconic turn zu lesen ist, ist laienhaft und kurz angesprochen. Die Anfrage soll lediglich hilfreich sein, das Unbehagen an dem was "Erinnerung" genannt wird ein wenig verstehbarer zu machen. Abschließend und ergänzend ein aktuelles, wie weitreichendes Zitat von Dieter Bartetzko, Redakteur der FAZ.

In der Vortragseinleitung heisst es: Der Titel des Vortrags "Nie wieder wegschauen..." Israel und einige Weltanschauungen der Gegenwart ist einem Unbehagen geschuldet. Wenn wir – sagen wir, anlässlich des Jahrestags des Pogroms vom 9./10. November 1938 – die einst so sicher geglaubten Erkenntnisse, die sich zu ergeben scheinen,zitieren:
- zwar keine Schuld (mehr) zu tragen, aber Verantwortung für..... tragen zu sollen,
- nicht wegschauen dürfen anlässlich nicht hinzunehmender Entwicklungen und Ereignisse
- und Zivilcourage die belehrte Konsequenz aus den Erfahrungen und Erinnerungen an "jene Zeit" sei,
dann sind all diese, wie auch immer im einzelnen formulierten Lehren, zwar präsent, aber auch erschüttert.

Das Unbehagen resultiert aus zahlreichen Gesprächen und Beobachtungen über mittlerweile viele Jahre. Die Gespräche mit vielen, nicht allein aus unserer Stadt, die sich in dem Kontext dessen bewegen und auch arbeiten, was "Erinnerungs- oder Gedenkkultur" genannt wird, sind von einer seltsamen Unbestimmtheit geprägt.

Diese Unbestimmtheit resultiert daraus, so meine Vermutung, dass wir alle nicht wissen, ob die Ansprüche an die Erinnerungskultur und mit ihr der Erinnerungspädagogik auch nur im Ansatz zu dem beitragen, was wir als ihre aufklärerisch-pädagogische Perspektive behaupten, also nicht nur anderen gegenüber behaupten, sondern auch und nicht zuletzt uns selbst gegenüber. Sicher lässt sich sagen, es müssten, da sich angestrebte politische Bildungserfolge noch nicht in dem Maße wie es wünschenswert eingestellt haben, Angebote und Aktivitäten vertieft, neu didaktisiert, intensiviert und verbreitert werden. Aber auch da gilt: Ob dieses more of the same nicht eher in die Nähe der Autosuggestion, denn zu kritisch-selbstaufgeklärten Handlungsperspektiven führt, ist gänzlich offen, also unsicher.

Zugespitzt formuliert: Der politische Nachweis, dass gerade die Erinnerungskultur Beiträge zu einer ebenso lebendigen, wie stabilen und wehrhaften Demokratie leistet, ist nicht nur nicht erbracht, hingegen womöglich nicht mehr als eben eine Behauptung - jedenfalls nicht verifiziert. Glauben wir also weiterhin daran?

Meine weitere Vermutung ist, dass der Glaube daran längst erschüttert ist. Wir gestehen es uns nur nicht.
Die Lehre des "Nie-wieder-wegschauen" gehört zu diesem Gefühlskomplex des Unbehagens.

In eher kulturkritischen Kontexten wird so sehr viel gesprochen von der Überflutung durch Bilder, die sich aus der globalen Verbreitung der nicht mehr so neuen Medien und elektronischen Kommunikationsmittel ergibt. Ganze Wissenschaftszweige befassen sich mit dem was als eventueller großer turn zu verstehen ist, hin zu der mehr und mehr dominanten Kommunikation mittels Bild. Schöngeistig formuliert: Wir erleben einen Paradigmenwechsel vom linguistic zum iconic turn. Die Wirkung dieser Wende hin zu einer Massenikonografie sind uns in ihren Perzeptionsweisen in dieser Häufung und in ihrer Intensität in ihrem Effekt auf Einzelne, wie auf Kollektive unterschiedlichster Art, überhaupt nicht bekannt.

Ich erinnere nur an die immer wieder neu und immer wieder aufs Neue unbeantwortete Frage, ob denn Videospiele mit eindeutigem inhaltlich-bildlichen Gewaltcharakter primär in ihrem Formcharakter als Spiel oder in ihrem Inhalt der Gewaltigkeit Wirkung zeitigen, als nur ein bekanntes und populäres Beispiel für das, was wir angesichts dieser neuen elektronischen Kommunikationsweisen nicht wissen. Unzählige weitere Fragen ohne Antworten ließen sich anschließen.

Zu dieser Wende von der Sprache zum Bild gehören ja auch die unzähligen Bilderfluten von Gewalt in den Nachrichten, Magazinsendungen usw. Ob und wie sich Urteilsfähigkeiten, also Unterscheidungsfähigkeiten, angesichts dieser alltäglichen Bilderflut herausbilden und in Bildung bilden, das scheint nach wie vor völlig ungewiss. Was also sieht ein 12-jähriger Schüler, wenn er Fotos von der brennenden Synagoge in Essen sieht, die damals noch nicht "die ALTE SYNAGOGE" hiess? Gehört nur ein besseres und vielleicht mehr Wissen zu dem was er sieht? Oder ist seine Bildwahrnehmung so aus- und eingeprägt, dass er sich eher an Computerspiele und deren Bildangebote erinnert und so das Ausgangsmotiv – Synagoge in spezifisch geschichtlichen Kontext 1938 brennend – völlig untergeht in eben den Bilderfluten, die sich "irgendwie" im Kopf des Rezipienten abgesetzt haben?

Diese Fragen sind nicht rhetorisch gemeint. Mir scheint, diese Fragen öffentlich zu stellen ist heute wichtiger, als sich unbefragt einer evtl. Illusion hinzugeben, die gängige Art und Weise der Geschichtspräsentation sei das, was wir von ihr glauben.

Und ähnliche Fragen, wie ich die Fragestellung bzgl. des "Nie wieder wegschauen" angedeutet habe, stellen sich uns auch im Hinblick auf Israel-Wahrnehmungen. Fragen, angesichts der Kommunikations- und Wahrnehmungsrevolutionen, die sich global vollziehen.

Vielleicht ist es ja heute so, dass diese Formen neuer Massenkommunikation nicht allein, aber vorherrschend mittels Bilder eher dann zu einer individuellen Urteilsfähigkeit Anlass geben, wenn man nicht hinschaut und in einer Art kontemplativem Wegschauen seinem Denken eine Unterbrechung von der Bilderflut ermöglicht?

Wohlgemerkt: Ich plädiere nicht dafür nicht wegzuschauen, weil ich nicht weiss, ob dieser Gedanke hin zu einer Art politisch-geschichtlichen Kontemplation (ein Hilfs- oder Arbeitsbegriff, der genauerer Betrachtung und Erläuterung bedarf) wirklich eher zu dem, was man Schärfung der Urteilskraft nannte, führen kann. Aber die dieser Frage zugrunde liegenden Veränderungen der Wahrnehmungsweisen lassen m.E. thesenhaft eben diese provokative Schlussfolgerung zu: Weniger hinschauen, ist mehr als nie wieder wegschauen! Und damit wäre zumindest eine fundamentale Erkenntnis der viel zitierten und beschworenen Lehren aus der Vergangenheit zwar nicht dementiert, jedoch in den Kontext der Zweifel neuer Wirklichkeiten gestellt.

Nur darum ging es mir allgemein in diesem Eingangsstatement: Wir sind uns unserer Lehren nicht mehr sicher und sie – dem Trotz ähnlich – zu behaupten, dient vielleicht zu "irgendetwas", aber wahrscheinlich nicht zu dem, was wir als ihren Sinn und Zweck behaupten: schärfere Urteilsfähigkeit gegenüber den Unübersichtlichkeiten dieser nun wahrlich unordentlichen Welt und einem Mehr an individueller politischer Verantwortlichkeit.

Diese Vermutung, dass wir uns unserer Lehren nicht mehr gewiss sein können, dies aber nur selten frei und öffentlich thematisieren, diese Frage ist im Hinblick auf unsere Israel-Wahrnehmungen als Frage zu erweitern: nicht "israelkritisch", sondern selbstkritisch.

So weit aus der Einleitung des erwähnten Vortrags.

Mein Fragemotiv bestätigend war, drei Tage nach dem internationalen Holocaust-Gedenktag, in der FAZ (Nr. 25/30.Januar 2013) von Dieter Bartetzko zu lesen:

"Wo Bücher brennen, brennen bald auch Menschen. Diesen Satz haben wir Deutschen so oft gehört und gelesen, dass uns das Gähnen ankommt, wenn er heute fällt. Doch im Moment ist der Unwillen darüber eher der Beweis unserer geistigen Verrohung und Abstumpfung: Unentwegt hören wir aus den Krisengebieten Ägypten, Syrien, Libyen, Afghanistan, Algerien und nun Mali von zerstörten Denkmälern, brennenden Büchern und ermordeten Menschen – so oft, dass es zur Gewohnheit wird. Die Listen der Toten wird täglich länger – und unser Gedächtnis kürzer. (...) zur Stunde ist Timbuktu der Brennpunkt dieser Apokalypse. (...) bald dürften neue Meldungen über neue Barbareien an Kunst und Menschen das Interesse auf sich ziehen." - So weit das Zitat. 

Angesichts des bundesweiten Jahresthemas 2013 "Zachor (Gedenke): Der Zukunft ein Gedächtnis" der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit bleibe ich nochmals bei meiner Frage: Was, wenn nicht die Zukunft ein Gedächtnis braucht (als könnten wir es "basteln"), sondern das gegenwärtige Gedächtnis versagt? Was wenn wir (nicht als selbst- oder fremdquälerischen Vorwurf verstanden, sondern als Herausforderung der Macht der Gewohnheit)  zu konstatieren haben den Verlust der Urteilskraft, den Verlust also zu den Tatsachen der Welt der Gegenwart?
 

 

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