LITERATUR, DIE DIE WELT JETZT BRAUCHT - Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2011 an Boualem Sansal

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Artikel veröffentlicht: 10.06.2011, 14:30 Uhr

Was wir brauchen 

Dem algerischen Schriftsteller Boualem Sansal ist der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2011 zugesprochen worden. "Eine Literatur, die die Welt jetzt braucht" betitelte die FAZ am 10. Juni 2011 ihren Beitrag zur Preisvergabe. Nachdem die "Gebrauchsliteratur", das "engagierte Schreiben" der so oft fehlgegangenen Literaten der Zeit des Kalten Krieges nach 1989 an ihr Ende gekommen schien, ist es eben nicht zuletzt Sansal, der eine engagierte Literatur der Selbstbefragung erneuert. In seinem kleinen Roman, der - nachvollziehbar - v.a. in Frankreich seinerzeit großes Aufsehen erregte - "Das Dorf des Deutschen" - kommt er zu erheblich mehr als nur einer Berührung eines bis dato unberührbaren Themas: Er beschreibt "die unterdrückte Wahrheit über Beteiligung von Nationalsozialisten im algerischen Unabhängigkeitskrieg" (FAZ). Was - um der Kürze Rechnung zu tragen nur so viel - zwei auch unserer großen Themen berührt:

* Die vormaligen Kolonialvölker waren und sind ihrerseits so wenig Träger des neuen Heils auf Erden und der Rettung der Welt, wie andere Opfer geschichtlicher Entwicklungen. Alles schuldbekennende "Schluchzen des weissen Mannes" (wie es P. Bruckner bereits 1983 so trefflich formulierte) konnte das Gegenteil nicht bringen.
* Dass das arabische und islamische Algerien seine Geschichte mit Nationalsozialisten und Nationalsozialismus hat, bringt uns womöglich auf anderem Weg als über die Koran-Kritik der Frage nach dem Verhältnis von Islam zu Juden- und Israelfeindlichkeit näher. Jedenfalls zeigen neuere historische Überlegungen (so hielt der Historiker Jeffrey Herf am 7. Juni 2011 hierüber einen viel beachteten Vortrag im Berliner Centrum Judaicum), dass der Holocaust mehr beabsichtigte als die Vernichtung des europäischen Judentums. Der nah-östliche Raum war den Arabern von den Nazis "judenrein" und vom Kolonialismus befreit versprochen, wenn sie politisch, ideologisch, militärisch entsprechend die nordafrikanische und mittelöstlichen Flanken im Welteroberungskrieg auf Seiten der Achsenmächte mit zu sichern bereit waren.   

Das ist nicht das erste Thema des kleinen Romans von Sansal. Er regt aber engagiert dazu an, hierüber weiter zu denken und auf diese Tradition hin gegenwärtige islamische Trends zu befragen. Sansal ist ein Provokateur. Hoffen wir darauf, dass sein Werk gelingt.

In der WELT vom 9. Februar 2011 hat Sansal einen kritischen Blick auf die Entwicklungen des Maghreb geworfen. Wir dokumentieren den Beitrag.
Karl H. Klein-Rusteberg

 

Das Problem heißt Islam
Die Aufstände in Tunesien und Ägypten verdienen Respekt. Aber solange Religion und panarabische Identität dominieren, besteht wenig Aussicht auf bessere Zeiten

Von Boualam Sansal in: DIE WELT 9. Februar 2011

Was derzeit in der arabischen Welt passiert, kann man aus zwei Blickwinkeln betrachten. Man kann darin eine tief verankerte Bewegung sehen, die nun auch für die Gesellschaften dieser Region Demokratie beansprucht. Vor allem die Jugendlichen stellen solche Forderungen, weil sie offener sind als ihre Eltern - dank Fernsehen, Internet, sozialen Netzwerken, Mobiltelefonen und Bildungsniveau. Ein Grund ist aber auch die Liberalisierung der Wirtschaft in diesen Ländern, die viele Menschen alleingelassen hat. Sie waren auf diese Liberalisierung im Zuge der Globalisierung nicht vorbereitet worden. Das natürliche Interesse der Jugend für Sport und Popmusik und die Bilder, die ihnen darüber vermittelt werden, haben ebenfalls eine Rolle gespielt. Sie haben ihnen Appetit gemacht auf Erfolg, auf Heldentaten und Luxus, auf das schnelle Geld und Reisen. Figuren wie Zinedine Zidane oder Michael Jackson sind ein hervorragendes Aufputschmittel für die Jugendlichen.
Den Wunsch, von einem demokratischen Regime regiert zu werden, findet man auf eine andere Weise auch bei den Islamisten und den einfachen Milieus, die ihnen nahestehen. Diese Kategorie von Islamisten und Konservativen glaubt nicht (oder nicht mehr) an eine Machtergreifung durch Waffen oder Gewalt. Sie wollen sie an den Urnen erreichen, um nicht die Armee zu verschrecken und die einheimischen liberalen Familien und die Länder des Westens. Ihre Vorbilder sind die Regimes im Iran, in Saudi-Arabien oder der Türkei. Es wäre wohl nur die erste Etappe. Einmal an der Macht, gingen sie wahrscheinlich den bekannten Weg der Radikalisierung - um sich zu konsolidieren und wegen des Drucks der Ultrakonservativen und der aktuellen Probleme, vor allem der ökonomischen.
Die andere Lesart der aktuellen Bewegung ist, dass sie nur eine neue Episode darstellt in den Kämpfen der Clans an der Spitze des Staates. In den arabischen Ländern ist die Macht eine illegitime. Jeden Tag muss - je nach Agenda - ein neues Gleichgewicht gefunden werden zwischen den verschiedenen Clans. Meistens ist eine Einigung schnell gefunden, man teilt sich problemlos den Gewinn. Aber manchmal muss lange verhandelt werden, manchmal greift man zu den Waffen, und die effizienteste Waffe ist das Volk. Das haben sie von Mao gelernt, der sich auf die Jugend stützte bei seiner Kulturrevolution und der jene niederschlug, die seine Macht infrage stellten und die das Regime ein wenig reformieren wollten. Der Aufruhr in Algerien vom Oktober 1988 ist dafür ein typisches Beispiel. Präsident Chadli stützte sich auf den legitimen Zorn des Volkes (der allerdings auch durch künstliche Knappheit provoziert wurde, die die Preise in die Höhe trieb), um sich der Einheitspartei und der Geheimdienste zu entledigen, die ihn daran hinderten, so zu regieren, wie er wollte: nämlich die algerische Wirtschaft liberalisieren, ganz nach der damals gültigen Bibel, diktiert vom Internationalen Währungsfonds und den westlichen Staaten, bei denen Algerien tief verschuldet war.
Ich glaube allerdings, dass das größte Problem noch bevorsteht: Es wird der Moment sein, an dem sich die verschiedenen sozialen Strömungen direkt gegenüberstehen: Islamisten, Christen, Nationalisten, Demokraten, Arbeitslose, Gewerkschaften, Armee, Bourgeoisie. Wird es ihnen gelingen, einen Dialog untereinander zu führen und ein gemeinsames Projekt zustande zu bringen? Oder werden sie einen Krieg beginnen, ein jeder, um sein eigenes Projekt durchzusetzen? Das wäre der Weg in den Bürgerkrieg oder, schlimmstenfalls, zur Teilung des Landes. Genau das ist 1988 nach den Aufständen in Algerien und der Einsetzung eines "demokratischen" Regimes passiert. Meine persönliche Einschätzung ist, dass sich kurz- und mittelfristig gar nichts ändern wird außer einigen Korrekturen an der Fassade. Denn in der ganzen arabischen Welt hat sich bisher noch niemand vom traditionellen Diskurs gelöst und die Autonomie des eigenen Landes und die Vorherrschaft der Demokratie beschworen.
Die Frage des Islam ist der eigentliche Stein des Anstoßes. Doch sie wird nie angegangen, ganz im Gegenteil: Alle - Demokraten wie Laizisten - beziehen sich auf die Religion. Mohammed al-Baradei, der sich als Demokrat internationalen Zuschnitts positioniert, wählte als seine erste Geste das gemeinsame Gebet mit den Islamisten auf offener Straße (er hätte auch mal in eine Kirche zu den Kopten gehen sollen), anstatt vor allem seine oppositionellen ideologischen Positionen zu betonen. Unter den aktuellen Bedingungen auf der Straße zu beten ist kein neutraler oder unverfänglicher Akt, es ist ein politisches Zeichen der schlechtesten Sorte. Es zeigt, dass viele von der Zukunft und der Demokratie sprechen, während sie sich zugleich ausgerechnet auf die Kräfte beziehen, die für das Gestern und die Ablehnung der Demokratie stehen.
Der arabische Nationalismus, der ein großes Hindernis ist auf dem Weg zur Demokratie, wird immer noch als ein Grundwert angesehen. Keiner wagt, ihm den Prozess zu machen und klar zu benennen, was ihn so gefährlich und ausgrenzend macht: Er ist eine rassistische, antidemokratische, antiwestliche, antisemitische und antiisraelische Ideologie. Man stelle sich vor, Europa erhöbe den Anspruch (so wie es einige Parteien der extremen Rechten gerne hätten), dass allein die europäisch-christliche Rasse Trägerin demokratischer Werte sei!
Wenn sich die Ägypter, Algerier, Tunesier endlich als Ägypter, Algerier, Tunesier definieren und nicht auch als Araber oder Muslime - dann wären sie wirklich auf dem Weg zur Demokratie. Dann könnten sie auf eine ganz natürliche Art den anderen akzeptieren, den Christen, den Juden, den Laizisten und den Fremden, der in ihrem Land lebt und heiratet, ohne gezwungen zu sein, zu konvertieren oder seine Identität zu verleugnen.
Es gibt noch den ganzen Rest von Problemen: das Justizwesen, die Verwaltung, die Ökonomie, die man befreien und dem Volk übergeben muss. Aber das sind sekundäre Aspekte. Priorität hat die Klärung der zentralen Fragen: die der Macht, die der Religion und die des arabischen Nationalismus.
Der Autor ist ein algerischer Schriftsteller, der den ersten arabischen Roman über den Holocaust geschrieben hat.

Aus dem Französischen von Rainer Haubrich.
 

 

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